Studierendenleben

Insel der Ruhe

Das multikulturelle Jungbuschviertel ist die Ausgehmeile Mannheims. Auf seinen Straßen ist rund um die Uhr Betrieb. Mitten in einem der Häuserblöcke befindet sich die Moschee Fatih Camii. Ihr Besuch ist ein Eintauchen in eine andere Welt.

Stille. Kein Lärm von den lebhaften Straßen. Keine Mühsal. Kein Alltag. Nichts davon dringt hoch in den großen, reich verzierten Gebetsraum im ersten Stock eines unscheinbaren Hinterhauses im Wohnblock zwischen Jungbusch- und Böckstraße. All dies ist zurückgeblieben, hinter einer massiven Pforte aus Holz.

Ein früher Vormittag im November. Vorm Eingang der Moschee Fatih Camii spielen ein paar kleine Jungs. Man erreicht ihn über den Innenhof, abseits des ahnungslosen Treibens auf der Böckstraße. Über ein schmales, dunkles Treppenhaus führt der Weg hinauf in die moscheeeigne Cafeteria. Bilder vom Bosporus hängen an der Wand, großzügige Sessel mit fein gewobenen Bezügen laden zum Sitzen ein, auf einem Bildschirm läuft türkisches Fernsehen. An der Theke haben sich einige Jungs Döner und Pommes gekauft, die Älteren ziehen sich einen Kaffee am Automaten. Direkt daneben schneidet ein Mann seinem Kollegen die Haare. Ein Friseursalon in einem Gotteshaus – kaum größer als eine Abstellkammer. Ist das zu glauben?

Es ist gesellig, die ersten Betgänger sind schon da – alles Männer. Auf das Mittagsgebet warten sie lieber hier, statt in der Kälte des Novembers. Einer von ihnen ist Ahmet Kaya. Wer sich für die Moschee interessiert, landet schnell bei ihm. Ehrenamtlich führt der knapp Vierzigjährige Besucher über das Grundstück. Ein Treffen ist übers Handy schnell vereinbart. Geboren und aufgewachsen in Mannheim, ist Kaya jedes Wochenende in der Gemeinde – nicht selbstverständlich für den vielbeschäftigten Diplomingenieur und Familienvater. Die wenige Zeit, die ihm bleibt, widme er gern der Moschee, erzählt er: „Sich einbringen zu können fühlt sich gut an, genauso wie das gemeinschaftliche Gebet.“

Fatih – der Name der Moschee bedeutet „Sieger“, „Eroberer“. Wie viele islamische Gebetshäuser sei auch das hiesige nach besonderen Persönlichkeiten in der Geschichte des Islams benannt, erklärt Kaya. In diesem Fall sind es die Eroberer des Osmanischen Reichs, aus dem später die Türkei hervorging. „‚Erobern’ klingt vielleicht brutal, meint aber ‚die Herzen’.“

Kaya öffnet die Tür zum Gemeindebüro, das zugleich die Bibliothek ist, und nimmt am Schreibtisch Platz. Durch ein großes Fenster blickt man in die Cafeteria. Es gibt schwarzen Tee mit Würfelzucker – im typisch türkischen Glas. Er deutet auf eine lange Liste an der Wand hinter ihm mit den Beiträgen der Gemeindemitglieder. „Die meisten von uns sind türkischer Natur, aber es kommen auch Pakistani, die haben keine eigene Moschee.“ Durch das Fenster sieht man, wie sich die Cafeteria mit Leuten füllt, darunter viele Kinder. „Um Nachwuchs müssen wir uns nicht sorgen. Die Gemeinde leistet hervorragende Kinder- und Jugendarbeit. 300 bis 400 Kinder kommen jedes Wochenende zum Koranunterricht. Keine andere Moschee macht das so erfolgreich wie wir“, sagt Kaya. Finanziert wird deren Unterricht über die Mitgliedsbeiträge sowie Erlöse aus dem Catering bei Veranstaltungen, wie zuletzt dem „Nachtwandel“. Hinzu kommen Mieteinnahmen, denn am anderen Ende des Grundstücks, in Richtung Jungbuschstraße besitzt die Gemeinde Wohnungen. Der große Aufwand ist begründet, denn ein langfristiger Trend bedroht das Gemeindeleben: Mitgliederrückgang. „Immer mehr weltliche Dinge machen der Religion Konkurrenz“, sagt Kaya. „Der Fernsehabend zu Hause auf der Couch ist nun mal bequemer als das regelmäßige Gebet.“ Kinder seien besonders in jungen Jahren für das Gemeindeleben zu begeistern. Später einmal werde es Fußball sein.

Bis das Mittagsgebet beginnt, lädt Kaya zu einem Rundgang ein. Es geht vorbei an vielen Gläubigen. Sie kommen aus der ganzen Stadt. Auf der Terrasse wird geraucht, auf den Fluren nimmt man Gesprächsfetzen auf – stets auf Türkisch. Immer wieder bleibt Kaya stehen und begrüßt Menschen. Es sind Freunde und Bekannte, manchmal sogar Verwandte. Man gibt sich die Hand oder umarmt sich. Alle sind sehr herzlich zueinander. „Ich bin Teil der dritten Generation hier. Mein Großvater kam Anfang der Siebziger als Gastarbeiter nach Mannheim. Weil es damals vom türkischen Staat keinerlei Unterstützung in Bezug auf die Islamlehre gab, gründete er gemeinsam mit Gleichgesinnten im Quadrat G7 die Fatih Camii – die erste islamische Gemeinde Mannheims.“ Heute gehört der Ort zur Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) mit über 500 Moscheen in Europa. In den Achtzigern erfolgte dann der Umzug in den multikulturellen Jungbusch. Ein ehemaliges Hochlager war wegen seinen hohen Decken wie geschaffen für das gemeinschaftliche Gebet. Nach Renovierungs- und Aufstockungsarbeiten war die Moschee vollkommen.

Die Führung geht weiter. Ein paar Minuten sind noch Zeit bis zum Gebet. Kaya zeigt Büros, einen Waschbereich für die rituelle Reinheit, Seminar- und Unterrichtsräume. Sogar einen großen Festsaal gibt es. Man durchquert das Parkhaus, es liegt genau über dem Saal und unter dem großen Gebetsraum. Auf den nicht mal 1400 qm Grundstücksfläche kommt viel unter. Alles ist geprägt von Unscheinbarkeit. Auf der anderen Seite, dort wo die Mietwohnungen sind, endet der Innenhof. Hier haben die Frauen der Gemeinde ihre eigenen Räume. Nur manchmal dürfen sie gemeinsam mit den Männern am Gebet teilnehmen, dann von einer Empore aus, ungesehen von den Männern unten. „Es ist wichtig, dass man beim Gebet bei der Sache ist, den Alltag hinter sich lässt. Wer betet, darf nicht abgelenkt sein. Das schreibt der Koran so vor, daran muss sich auch unsere Gemeinde halten.“

Dann ist es viertel nach zwölf, der Gebetsruf ertönt und es geht wieder hinauf. Eine Art Brücke verbindet das Haupthaus mit dem Gebäudeteil im Hinterhof, das den großen Gebetsraum beherbergt. Auf dem Weg dorthin legen die Gläubigen ihre Schuhe ab, weil der heilige Raum nur auf Socken betreten werden darf. Die Betenden stellen sie rechts und links ins Regal. Leise öffnet Kaya die große Holztür, denn das Mittagsgebet ist schon im vollen Gange. Hinter ihr verbirgt sich ein geräumiger Saal mit raumhohen Fenstern und einer Empore. Wände und Säulen sind bunt gekachelt, die Decke mit aufwändigen Wandmalereien übersäht. Prunkvolle Kronleuchter spenden dort Licht, wo das trübe Novemberwetter keines hergibt. Die Atmosphäre ist faszinierend. Wegen der großen Schlichtheit des bisher Gesehenen übermannt einen die Schönheit. Der Alltag liegt in weiter Ferne, ganz im Sinne des Korans. Lediglich zwei antiquierte Standuhren erinnern daran, dass die Zeit verstreicht.

Kaya und seine Glaubensgenossen sind zivil aber zurückhaltend gekleidet, nur der Imam sticht mit seinem hellweißen Gewand heraus. Er steht leicht erhöht vor der Gebetsnische und spricht über ein Mikrophon zur Gemeinde – seine Predigt. Als Fußboden dient ein purpurfarbener Teppich, der in parallel zur Wand verlaufende Abschnitte unterteilt ist. Entlang dieser haben sich gut 70 Gläubige dicht an dicht, den Blick geradeaus auf die Wand mit der Gebetsnische gerichtet aufgereiht. Auch Kaya mischt sich darunter. Drei Viertel des Raumes bleiben frei. Dann übernimmt der Muezzin, ein alter Mann, der im Sitzen aus dem Koran vorliest. Das eigentliche Gebet. Bis auf seine Worte ist es still, während die Gläubigen konzentriert die verschiedenen Gebetspositionen einnehmen. Als letztes ist das eigenständige Gebet vorgesehen, für das sich alle im Raum verteilen.

Nach zehn Minuten ist das Gebet vorüber, der Imam hat wieder das Wort und predigt ein zweites Mal. 15 Minuten sind inzwischen vergangen. Ein paar kleine Jungs verlassen bereits den Raum. „Die Kinder hier dürfen sich auf dem Gelände frei bewegen. Die können kommen und gehen, wann sie wollen“, flüstert Kaya, der aus der Gruppe zurückgekehrt ist. Das nächste Gebet ist um 14:18 Uhr. Es wird das dritte von insgesamt fünf sein an diesem und ausnahmslos jedem anderen Tag. Nicht alle werden bleiben, auch Ahmet Kaya nicht. Doch einen kurzen Moment lang genießt er ihn noch: Diesen Ort, diesen Moment, diese Stille.

Erlebt und verfasst von Adam Aach