KulturStudierendenleben

Empirische Genderlinguistik: Ein Interview mit Prof. Dr. Carolin Müller-Spitzer

-Ioana Paul

Die Brücke. El puente. The bridge.

Im Jahr 2003 wurden im Rahmen einer Studie deutsche und spanische Teilnehmer*innen gebeten, ein Bild einer Brücke auf Englisch zu beschreiben. Es stellte sich heraus, dass Spanischsprachige die Brücke eher als groß und gefährlich beschrieben, während Teilnehmer*innen mit Deutsch als Muttersprache Adjektive wie schön und elegant wählten. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären?  Im Spanischen ist die Brücke maskulin (el puente). Unbelebte Substantive, hier die Brücke, werden je nach grammatikalischem Geschlecht mit scheinbar männlichen oder weiblichen Eigenschaften assoziiert. (Boroditsky, Schmidt, und Phillips 2003).

Deutsch und Spanisch sind zwei Beispiele für geschlechtsspezifische Sprachen. Im Spanischen gibt es zwei Genera, das heißt, alle Substantive müssen entweder feminin oder maskulin sein. Das deutsche Genussystem ist hingegen weniger strikt und erlaubt einigen Substantiven weder feminin noch maskulin zu sein. Es gibt jedoch auch Sprachen, die überhaupt kein Genussystem aufweisen, wie zum Beispiel Englisch, Japanisch und Türkisch.

In einem anderen Experiment wurde untersucht, ob die Markierung des Geschlechts sogar Werte und Prinzipien beeinflussen kann. Zu diesem Zweck wurden russische und estnische Zweisprachige nach dem Zufallsprinzip entweder auf Russisch (eine Sprache mit Genussystem) oder auf Estnisch (eine Sprache ohne Genussystem) zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen befragt. Dabei kam heraus: Personen, die auf russisch befragt wurden, unterstützten die Gleichstellung der Geschlechter weniger, als die auf estnisch befragten. (Pérez and Tavits)

Nicht nur Prinzipien können beeinflusst werden, sondern auch konkrete, reale Werte. Eine umfangreiche Studie (Jakiela and Ozier 2018) deutet auf eine Korrelation zwischen dem Genussystem und der Erwerbsbeteiligung von Frauen hin. Anhand eines umfangreichen Datensatzes wurde das Genussystem in über 4000 Sprachen untersucht. Die Schlussfolgerung? Die Markierung des Geschlechts entspricht einer Reduktion in der Erwerbsbeteiligung von Frauen um 12% und einer Vergrößerung des Gender Gaps auf dem Arbeitsmarkt um 15%. Das sind schon erhebliche ökonomische Auswirkungen, die zeigen, dass Sprachen in unserem Kampf für Gleichstellung der Geschlechter berücksichtigt werden müssen.

Our results suggest that individuals should reflect upon the social consequences of their linguistic choices, as the nature of the language we speak shapes the ways we think, and the ways our children will think in the future“ (Jakiela and Ozier 2018)

Der Wissenschaftler

Die Tatsache, dass Sprachen unsere Realität formen, stellt auch das generische Maskulinum in Frage. Das generische Maskulinum bezeichnet die Verwendung maskuliner Substantiven oder Pronomen, unabhängig vom Geschlecht der bezeichneten Personen. Der Mann als Norm für eine diverse Gruppe. Viele sind jedoch der Meinung, dass dies Frauen oder nicht-binäre Personen unsichtbar macht und plädieren für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Um mehr über die Blickwinkel der Forschung in dieser gesellschaftlichen Debatte zu erfahren, haben wir mit Prof. Dr. Carolin Müller-Spitzer, Leiterin des Projektes Empirische Genderlinguistik am Leibniz Institut für Deutsche Sprache, gesprochen.

Empirische Genderlinguistik

Das Projekt Empirische Genderlinguistik ist ein relativ junges Projekt. Offiziell wurde es im Jahr 2020  als Reaktion auf den lebhaften öffentlichen Diskurs gegründet. Der Fokus liegt auf der Empirie, da es derzeit an empirischer, korpusbasierter Forschung in der Genderlinguistik mangelt. Eine der Hauptaufgaben des Projektes ist es, den wissenschaftlichen Forschungsstand für die Öffentlichkeit aufzuarbeiten und auch korpusbasierte Studien zum Thema durchzuführen, z.B. wie häufig das generische Maskulinum in deutschen Texten eigentlich vorkommt, so Prof. Müller-Spitzer. In der Debatte wird oft so getan, als sei das generische Maskulinum immer der Normalfall gewesen, um Personen zu bezeichnen. Aber dies wird durch sprachgeschichtliche Forschungen zu historischen Grammatiken und Sprachlehrbüchern  in Frage gestellt. Auch Texte aus dem Ende des 19 Jh. enthalten weibliche Formen wie z.B Lehrerin oder auch Formen wie Studierende. Das generische Maskulinum als Terminus kam erst ab den 1980er Jahren in Grammatiken vor. Im Sprachgebrauch ist es wahrscheinlich schon länger üblich, allerdings waren in früheren Zeiten mit Bezeichnungen wie Politiker oder Ärzte nur Männer adressiert, weil nur Männer solche Positionen einnehmen bzw. die Fächer studieren durften.

Die Tatsache, dass es das generische Maskulinum nicht schon immer gab, mag für manche überraschend sein. Prof. Dr. Müller-Spitzer weist jedoch darauf hin, dass “es im Grunde dasselbe ist wie mit den Geschlechterrollen insgesamt. Es wird oft getan, als wären schon in der Steinzeit Frauen am Feuer gewesen und die Männer auf der Jagd. Wenn man auf die historischen Funde nochmal mit neuen Fragen betrachtet oder nachträgliche DNA-Analysen macht, stellt sich auf einmal heraus, dass ein Krieger eigentlich eine Kriegerin war. Man hat bis jetzt nur nie danach gefragt.”

Allerdings ist die Analyse der historischen Texte eine Herausforderung für die empirische Genderlinguistik, da es oft schwierig ist, festzustellen, ob durch das Maskulinum nur Männer gemeint waren oder tatsächlich auch Frauen. Aber auch wenn das generische Maskulinum “schon immer da war“ ist das kein Grund, es für immer zu behalten. “Aus dem Sein folgt kein Sollen“, so Prof. Müller-Spitzer. “Interessant dabei ist auch, dass den wenigen Grundwörtern, bei denen die Bezeichnung für die männliche Person die Ableitung ist (Braut Bräutigam, WitweWitwer, Hexe Hexer) kein geschlechtsübergreifendes Potenzial zugewiesen wird. Zumindest habe ich noch nie die Forderung gehört, dass man einen Mann, der heiratet, als „Braut“ bezeichnen sollte.“

In der Linguistik gibt es, wie auch in der öffentlichen Debatte, unterschiedliche Sichtweisen zur geschlechtergerechten Sprache. Einerseits kann Sprache als geschlossenes inneres System betrachtet werden. Ein wichtiger Vertreter dieser Perspektive ist Peter Eisenberg. Ihm zufolge ist die deutsche Sprache auch ohne Veränderungen bereits geschlechtergerecht, da das grammatische Geschlecht als innersprachliche Kategorie in keiner Beziehung zum sozialen Geschlecht steht. Andererseits kann die Sprache auch als soziales Handeln verstanden werden. Laut Prof. Dr. Müller-Spitzer rückt gerade diese Perspektive in der Sprachwissenschaft immer stärker im Vordergrund. Immer mehr Studien befassen sich mit der Frage: Was bewirken wir mit der Sprache im sozialen Handeln? Einige Ergebnisse befinden sich am Anfang dieses Artikels.

Wie flexibel sind Sprachen eigentlich?

Wir verwenden die Sprache, um die Welt darzustellen. Die Worte, die wir benutzen, beeinflussen unsere Wahrnehmung der Realität. Doch gelingt es den Sprachen tatsächlich die Gegenwart zu widerspiegeln oder eher die Vergangenheit bzw. wie flexibel sind Sprachen eigentlich? Man kann sich die Sprache als Zwiebelmodell vorstellen, so Prof. Müller-Spitzer. Zuerst kommt die Lexik, die sich ständig ändert, weil es immer wieder Dinge oder neue Konzepte gibt, die irgendwie genannt werden müssen. Dann die Pragmatik, die Regeln umfasst, wie etwa wann duzen wir oder wann siezen wir, was sich auch relativ schnell anpassen lässt. Im Inneren liegt dann die Grammatik, die sich viel langsamer verändert, weil sie ein stabiles System ist. Der Weg zu einer geschlechtergerechten Sprache muss all dies berücksichtigen, laut Prof. Müller-Spitzer. Wir können uns zunächst darauf konzentrieren, neutrale Ersatzformen zu entwickeln (z.B Führugskraft statt Manager, Lehrkraft statt Lehrer), was nur die lexikalische Ebene betrifft und somit einfacher von der Gesellschaft akzeptiert werden kann.“Viel schwerer wird es wenn man bei den Pronomen eingreift.“ Prof. Dr. Müller-Spitzer erzählte daraufhin, dass ihr vor ein paar Wochen bei einem Vortrag in Paris von Studierenden erzählt wurde, dass sie geschlechtsabstrakte Pronomen verwenden. Aber dann muss das Adjektiv auch angepasst werden und da nehmen sie doch wieder das Maskulinum weil es das normalere sei. “So merkt man, dass das irgendwie wie eine Kette ist. Irgendetwas wird geändert und das andere Glied der Kette ist noch unverändert und es ist schwer alles anzupassen.“

Forschungsbedarf

Laut Prof. Dr. Müller Spitzer muss der male bias, d.h die Idee, dass Menschen bei den grammatikalisch männlichen Personenbezeichnungen eher an Männer denken, differenzierter erforscht werden. In welchen Kontexten ist dieses Phänomen stärker ausgeprägt? Wann funktioniert das generische Maskulinum tatsächlich? Es ist meistens so, dass das generischen Maskulinum bei Ortsbezeichnungen relativ gut passt. (Ich gehe zum Friseur, zum Bäcker).

Weiterhin gibt es Forschungsbedarf hinsichtlich der lexikalischen Relevanz von Wörtern. Es ist wichtig zu untersuchen, inwiefern verschiedene Wörter ein unterschiedliches Potenzial haben, sagt Prof. Dr. Müller Spitzer. “Zum Beispiel hat das Wort “Einwohner“ ein viel größeres geschlechtsabstraktes Potenzial als “Arzt“, weil sich “Einwohner“ auf eine Gruppe von Personen bezieht, wobei “Arzt“ eine Person bezeichnet.“ Außerdem wäre mehr Forschung der Sprachgeschichte interessant. Man könnte versuchen zu untersuchen, wie verschiedene Autor*innen mit dem Zusammenspiel zwischen Sprache und Geschlechtergerechtigkeit umgegangen sind.

Zum heutigen Sprachgebrauch sagt Prof. Müller Spitzer, dass “trotz der Komplexität der Herausforderung, das Deutsche geschlechtergerecht zu verwenden, gibt es immer mehr Menschen, die diese Herausforderung annehmen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es zu früh, jetzt schon bestimmte Formen geschlechterinklusiven Schreibens oder Sprechens zu präferieren.“ Das Wichtigste sei, die Integrität der Sprache und die Freiheit, mit verschiedenen Formen der Sprache zu experimentieren ohne es den anderen vorzuschreiben, zu erhalten. Die Sprache werde schließlich von allen mitverändert. “Was „korrekt“ oder „richtig“ ist, steht nicht auf alle Zeiten fest und ist (und war nie) für alle Sprachteilnehmer*innen gleich, sondern muss in vielfältiger Weise immer wieder neu erarbeitet werden“ , so Prof. Dr. Müller-Spitzer.

Quellen:

1. Boroditsky, L., L. A. Schmidt, and W. Phillips (2003): “Sex, Syntax, and Semantics,” in Language in Mind: Advances in the Study of Language and Thought, ed. by S. Goldin-Meadow, and D. Gentner, pp. 61–79. MIT Press, Cambridge, MA.

2. Perez, E. O., and M. Tavits: “Language Influences Public Attitudes Toward Gender Equality,” Journal of Politics.

3. Jakiela, P, and O. Ozier: “Gendered Language”, World Bank Policy Research Working Paper No. 8464, June 2018

4. Müller-Spitzer, C.: “Geschlechtergerechte Sprache: Zumutung, Herausforderung, Notwendigkeit?“, in Sprachreport Jg. 37 (2021) Nr. 2, S. 1-12


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